10. Juli 2014 (Aktualisiert: 30. Januar 2018)
Pseudowissenschaftlicher Wahnsinn
MMS – Ein lebensgefährlicher Betrug
Zahlreiche Wundermittel selbsternannter Heiler versprechen sanfte und vollständige Genesung von allen nur erdenklichen Beschwerden, vom schlechten Atem bis hin zu Krebs. Doch i. d. R. ziehen sie nur den ohnehin schon geplagten Menschen das Geld aus der Tasche. Aktuell ist aufgrund behördlicher Ermittlungen ein schon seit Jahren vertriebenes, besonders übles Mittel wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt – MMS.
„Entdeckt“ wurde MMS von Jim Humble Ende der 1990er Jahre im südamerikanischen Dschungel, als während der Suche nach Gold einige seiner Begleiter an Malaria erkrankten und Humble ihnen ein Mittel verabreichte, welches der Trupp zur Aufbereitung von Trinkwasser mitführte. Bereits wenige Stunden später sollen die Männer wieder topfit gewesen sein. Nach weiteren Forschungen, zahlreichen Tests und Optimierungen will Humble einige Jahre später an verschiedenen Orten in Afrika zehntausende Menschen mit seinem Mittel von Malaria und anderen Krankheiten geheilt haben. Handfeste und unabhängig bestätigte Nachweise für diese Anekdoten bleibt er schuldig, stattdessen wettert er gegen Behörden, welche die Beweise angeblich zurückhielten.
MMS stand lange Zeit für „Miracle Mineral Supplement“ – ein recht hochtrabender Name für einen Chemiebaukasten, der weder etwas mit einem Wunder noch etwas mit Mineralien zu tun hat. Möglicherweise wuchs dem Erfinder dieser Name inzwischen selbst etwas über den Kopf, so daß die Mischung seit einiger Zeit als „Master Mineral Solution“ beworben wird – alter Wein in neuen Schläuchen, aber bei zwielichtigen Produkten sind gelegentliche Umbenennungen zu erwarten. Statt MMS bzw. einer der schönfärberischen Umschreibungen könnte allerdings auch genauso gut „Pestizid“, „Desinfektionsmittel“ oder „Bleichmittel“ auf der Verpackung stehen, denn das sind die tatsächlichen Anwendungsgebiete von MMS, bei dem es sich um nichts anderes handelt als die giftige und hochreaktive Industriechemikalie Chlordioxid (ClO2). Für die innere Anwendung ist eine solche Substanz sicherlich nicht geeignet.
Das bei Normaltemperatur bernsteinfarbene Gas ist in Konzentrationen über 10 Vol.-% explosiv. Auch in wässriger Lösung ist eine Lagerung nicht unproblematisch, da das Gemisch instabil ist. Daher muß der Anwender von MMS dieses sich erst selbst aus zwei nicht minder brisanten Chemikalien zusammenbrauen: Natriumchlorit (NaClO2, nicht zu verwechseln mit Natriumchlorid NaCl – Kochsalz) und zumeist Salzsäure (HCl). Auch diese beiden Substanzen sind giftig, ätzend und wirken bleichend[1]. Dennoch wird selbst der unbedarfte Laie in geradezu fahrlässiger Weise dazu ermuntert, sich in seiner Küche das Gebräu MMS zusammenzumischen und zu schlucken. Ein gewisser Mut zu Risiko und Leichtsinn ist dabei sicherlich von Vorteil.
Neben Malaria soll MMS inzwischen auch zahlreiche andere Krankheiten wie z. B. Krebs, HIV, Hepatitis usw. nicht nur lindern, sondern sogar heilen können. Aufgrund der Gefahren und der bis heute nicht nachgewiesenen Wirkung ist es jedoch kein Wunder, daß Gesundheitsbehörden rund um die Welt seit Jahren einhellig vor MMS warnen und, sofern möglich, strafrechtlich gegen die Verbreitung vorgehen.
- Die Protagonisten
- Mythos: Die Wirksamkeit von MMS ist nachgewiesen
- Mythos: Chlordioxid dient auch der Wasseraufbereitung, also muß es gut sein
- Mythos: MMS unterscheidet die guten von den bösen Keimen
- Mythos: MMS hat keine Nebenwirkungen
- Mythos: Hinter MMS stehen keine finanziellen Interessen, es dient ausschließlich den Menschen
- Mythos: MMS hilft gegen Autismus
- Mythos: Wir sind die Opfer einer Verschwörung der Pharma-Mafia
- Weiterführende Links
Die Protagonisten
Jim Humble
Der US-Amerikaner Jim Humble, geboren Mitte der 1930er Jahre, ist ein ehemaliger NASA-Ingenieur, Entwickler von Bergwerktechnik, Goldsucher, Buchautor und nicht zuletzt selbsternannter Retter der Menschheit. Nach Spiegel-Online-Recherchen war er 25 Jahre für Scientology tätig. Obwohl nach eigener Aussage „nicht religiös“, gründete er zur besseren Vermarktung von MMS und anderen Heilsversprechungen 2010 eine eigene Sekte, die „Genesis II Church of Health and Healing“, deren Ziel neben vermeintlicher Gesundheitsarbeit u. a. auch der Kampf gegen Impfungen ist. Ganz bescheiden (engl: humble) nennt Humble sich seitdem Erzbischof.
Darüber hinaus ist der umtriebige selbsternannte Bischof ein fleißiger Verschwörungstheoretiker und Weltuntergangsprophet, der seine „Erkenntnisse“ in seinen Büchern düster und episch ausbreitet. Er sieht nicht nur die gesamte Pharmaindustrie und sämtliche Gesundheitsbehörden als kriminelle Vereinigungen an, welche ihn und seine vermeintlichen Erfolge von MMS zunichte machen wollen, er will auch als einer der wenigen Menschen weltweit die grausame Wahrheit erkannt haben, daß die Regierungen uns alle töten wollen und sich dabei allerlei übelster Mittel bedienen:
- bewußt zurückgehaltene bzw. unterdrückte Heilmittel (wie z. B. MMS)
- trotz angeblich Millionen Betroffener verharmloste bzw. nicht anerkannte Krankheiten
- künstlich erzeugte Krankheiten, deren Spur Humble bis in Regierungslabore zurückverfolgt haben will
- gezielte schleichende Vergiftung der Bevölkerung (z. B. durch Quecksilberverbindungen in Impfstoffen, obwohl diese nachweislich unschädlich sind und kaum noch verwendet werden)
- Personen, die schon seit Ewigkeiten an der Auslöschung der Menschheit arbeiten
- Chemtrails …
Spätestens hier erübrigt sich jede weitere Diskussion. Eine massive Paranoia gepaart mit Größenwahn sind nicht von der Hand zu weisen. Wenn Menschen wie Humble eines bewirken, dann sind es eine Auslöschung der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes.
Ali Erhan
Des Bischofs deutscher Lakai ist der türkischstämmige Maschinenbauingenieur Ali Erhan, welcher im deutschsprachigen Raum besonders aktiv und lautstark für MMS trommelt. Für seine Tätigkeit als MMS-Trainer absolvierte er eine umfassende Ausbildung bei Jim Humble persönlich. Auf seinen nicht ganz billigen Seminaren und Workshops, für die als Köder bisweilen auch schon mal 10 % Nachlaß für weitere geworbene Teilnehmer gewährt werden, wird MMS als das Wundermittel schlechthin angepriesen und von den Teilnehmern auch direkt ausprobiert. Die Gefahren werden dabei grotesk verharmlost bzw. in krimineller Weise ins Positive verdreht, so dürfen die Teilnehmer zu ihrem eigenen Wohlbefinden und im Gegensatz zu jedem Industriearbeiter gerne mal einen kräftigen Zug giftigen Chlordioxids einatmen, bevor sie sich das Gebräu in Augen, Ohren und Nase träufeln sollen.
Interessanterweise wurden inzwischen alle weiteren Seminare in 2014 ab- bzw. gar nicht erst angemeldet. Die entsprechenden Websites Erhans sind nicht mehr erreichbar bzw. werden „überarbeitet“ (Stand Juli 2014). Wenn doch MMS angeblich so ein grandioses Heilmittel ist, woher kommt dann das plötzliche Muffensausen, nur weil die Behörden endlich einmal etwas genauer hinschauen und Druck machen? Hat da jemand etwas zu verbergen, wie z. B. die Tatsache, daß das Anpreisen und Verkaufen eines noch dazu nicht zugelassenen Arzneimittels einen Straftatbestand darstellt?
Auch beim deutschen Chemie-Ali ist klar ersichtlich, aus welcher Ecke der esoterische Wind weht, denn neben der Werbung und dem Vertrieb von MMS ist er nach eigener Aussage auch als Geistheiler mit den Schwerpunkten Aurareinigung, Power-Light und CQM („Chinesische Quantum-Methode“ nach Gabrielle Eckart) auf Dummenfang.
Leo Koehof
Als Autor und Verleger mehrerer pseudowissenschaftlicher Bücher zu MMS und anderen alternativmedizinischen Themen über den in den Niederlanden beheimateten „Das Neue Licht/Jim Humble Verlag“ ist der 1958 geborene Leo Koehof neben Ali Erhan das zweite laute Sprachrohr der MMS-Szene in Deutschland. Er war maßgeblich an der „Studie“ zur Wirksamkeit von MMS in Uganda beteiligt, nachdem er schon zuvor zahlreiche Menschen in Afrika von Malaria geheilt haben will.
Mythos: Die Wirksamkeit von MMS ist nachgewiesen
Die einzige „Studie“, die als angeblicher Nachweis immer wieder angeführt und mit reichlich Videomaterial gestützt wird, ist ein Test an ahnungslosen Bewohnern in Uganda im Dezember 2012. Der Initiator Leo Koehof behauptet, daß im Rahmen dieses Versuchs in Zusammenarbeit mit dem ugandischen Roten Kreuz 154 Menschen innerhalb weniger Stunden zu 100 % von Malaria geheilt wurden und Ärzte dies auch bestätigt hätten. Der angebliche Erfolg soll durch zahlreiche Schrift- und Videodokumente belegt worden sein, welche aber in weiten Teilen der Öffentlichkeit vorenthalten werden, um MMS totzuschweigen. Sowohl dem Roten Kreuz als auch anderen Gesundheitsbehörden wird mit lautem Gepolter die Beteiligung an einem Genozid vorgeworfen, da die grandiose Heilwirkung von MMS vertuscht werden soll und alle seit dem Versuch an Malaria gestorbenen Menschen somit auf das Konto der „Pharma-Mafia“ gingen.
Der an der Untersuchung beteiligte Belgier Klaas Proesmans zeichnet jedoch ein deutlich anderes Bild und distanziert sich inzwischen von dem damaligen Vorgehen. So seien nicht nur die Bewohner, sondern auch die Behörden getäuscht und über den wahren Hintergrund des Versuchs im Unklaren gelassen worden – offiziell ging es nur um die Trinkwasseraufbereitung. Zudem widerspricht Proesmans klar der Behauptung, die 154 Menschen wären tatsächlich geheilt worden. Ärztliche Untersuchungen zur Bestätigung wären entgegen Koehofs Behauptung gar nicht durchgeführt worden, stattdessen wurden unwissende Menschen letztlich für reine MMS-Propaganda mißbraucht, ohne ihnen wirklich zu helfen. Insbesondere Kinder wären durch das Gift bewußt in zusätzliche Gefahr gebracht worden. Auch das Internationale Rote Kreuz distanziert sich aufs Schärfste von den behaupteten Wunderheilungen[2].
Mythos: Chlordioxid dient auch der Wasseraufbereitung, also muß es gut sein
Chlordioxid ist in vielen Ländern zur Trinkwasseraufbereitung zugelassen, da es wirksamer gegen Bakterien und Viren ist als so manch andere Substanz. Das ist eine unbestrittene Tatsache. Die zulässige Konzentration im Trinkwasser nach der Desinfektion liegt in Deutschland bei 0,2 mg/l. In der zubereiteten, „aktivierten“ MMS-Lösung wird dieser zulässige Grenzwert jedoch um mehr als das Hundertfache überschritten.
Auch Arsen und Quecksilber finden sich im Trinkwasser, wenn auch in ausgesprochen geringen Mengen. Trotzdem käme niemand auf die abstruse Idee, daß etwas zwangsläufig eine positive oder gar heilende Wirkung haben muß, nur weil es sich im Trinkwasser nachweisen läßt. Die MMS-Verfechter sehen das offensichtlich anders. Ob sie sich wohl auch einem persönlichen Test mit der hundertfachen Menge Arsen und Quecksilber als im Trinkwasser vorhanden unterziehen würden? Schließlich werden beide Substanzen seit langem auch in der Homöopathie angewendet – wenn das kein „Beweis“ für die Heilwirkung ist.
Mythos: MMS unterscheidet die guten von den bösen Keimen
Der gesamte behauptete Wirkmechanismus beruht einzig und allein auf der Annahme, MMS könne die schädlichen Keime und bösartigen Zellen von den gutartigen unterscheiden. Als Standardfloskel in der einschlägigen Literatur wird angeführt, daß bösartige Keime und Krankheitserreger anaerob lebten, d.h. auf eine saure, sauerstoffarme Umgebung angewiesen seien. MMS als Sauerstofflieferant wäre für diese Keime somit pures Gift und würde zum Absterben führen, alle guten Keime und Bakterien blieben davon unberührt. Diese absurde Theorie wird durch endlose Wiederholung regelrecht zum Dogma aufgeblasen.
Das Problem dabei: Viele Keime wissen gar nicht, wie sie sich korrekt zu kleiden haben, damit MMS sie unterscheiden kann. Es gibt „böse“ Keime in Abendgarderobe ebenso wie „gute“ Keime mit Piratentuch und Augenbinde. Zahlreiche Krankheitserreger leben aerob und sehen etwas mehr Sauerstoff bestenfalls als Energydrink an. Aber schlimmer noch: Viele für den Körper lebensnotwendige Bakterien leben anaerob, so z. B. der größte Teil der Darmbakterien. MMS tötet auch diese! So ist es kein Wunder, daß verantwortungslose Eltern, die ihre Kinder mit MMS-Einläufen mißhandeln, deren Darmflora nachweislich massiv schädigen.
Eine primitive Unterscheidung von Zellen in gut und böse allein auf der Basis ihres Oxidationspotentials, wie es für MMS naiv postuliert wird, ist chemisch wie biologisch unmöglich. Selbst die gerne verunglimpfte „Schulmedizin“ tut sich sehr schwer, z. B. Krebszellen sicher zu erkennen und gezielt anzugreifen, ohne dabei auch andere Zellen in Mitleidenschaft zu ziehen. Gäbe es eine einfachere Möglichkeit, würden wohl kaum jährlich Milliarden von Dollars und Euros in die Krebsforschung gepumpt. Auch die gerne und oftmals zurecht als geldgierig verschrieene Pharmaindustrie fände für diese Milliarden sicherlich eine bessere Verwendung, und wenn es nur ein paar neue Dienstwagen wären.
Mythos: MMS hat keine Nebenwirkungen
Krankenhäuser und Giftnotrufe zeigen da ein deutlich anderes Bild. Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt wie Bauchschmerzen, Übelkeit sowie Reizungen und Verätzungen von Schleimhäuten sind an der Tagesordnung. Ebenfalls recht häufig sind Durchfälle, da MMS die Darmflora schädigt. Doch diese klaren Vergiftungssymptome werden verharmlost als angeblich beginnende „Heilung“ und „Reinigung“ des Körpers von schädlichen Mikroben. Es ist pures Glück, daß es bis heute (Stand Juli 2014) noch kein dokumentiertes Todesopfer gibt, welches nachweislich in Zusammenhang mit MMS steht. So mancher Malaria-Patient überlebte die wirkungslose MMS-„Behandlung“ allerdings nur, weil er gerade noch rechtzeitig in ein Krankenhaus verbracht wurde. Zudem gibt es einige Fälle, in denen MMS im starken Verdacht steht, den Tod verursacht zu haben[3].
Auch die notwendige Selbstzubereitung durch den Anwender ist hochproblematisch. Bei der üblichen Herstellung aus Natriumchlorit und Salzsäure entsteht nicht nur giftiges Gas, es verbleiben auch freies Chlor sowie giftiges Chlorat als Verunreinigungen in der Lösung, da die Reaktion der Ausgangsstoffe von verschiedenen Faktoren wie Temperatur, Dauer, Konzentrationen usw. abhängig ist und daher zumeist nicht vollständig abläuft. Je nach Reinheit bzw. Unreinheit der Ausgangsstoffe können sich im Ergebnis auch noch ganz andere Substanzen wiederfinden, das Gemisch ist also zu einem guten Teil unberechenbar. Daß man gerade als Möchtegern-Chemiker solche unter nicht exakt kontrollierbaren Bedingungen zusammengebrauten, brisanten Substanzen nicht unbedingt zu sich nehmen sollte, insbesondere keine Bleich- und Desinfektionsmittel, gebietet einem eigentlich schon der gesunde Menschenverstand. Wer den nicht mehr hat, sollte sich wenigstens an die Warnungen aus dem Chemieunterricht in der Schule erinnern.
Mythos: Hinter MMS stehen keine finanziellen Interessen, es dient ausschließlich den Menschen
In einem Interview mit Michael Friedrich Vogt im März 2014 berichtete Leo Koehof über seine ersten Erfahrungen mit MMS in Afrika, lange vor dem Versuch in Uganda. Auf die Frage des Moderators, wieviel denn ein Liter MMS etwa koste, antwortete Koehof, süffisant lächelnd, wörtlich: „Sagen wir mal, drei Euro.“[4] Das dürfte etwas untertrieben sein und diente wohl eher dem Zweck, MMS im direkten Vergleich zu den oftmals tatsächlich überteuerten Produkten der Pharmaindustrie als nahezu spottbillig und scheinbar selbst für die Ärmsten erschwinglich anzupreisen.
Schaut man sich jedoch einmal gängige Großhandelspreise für die verwendeten Chemikalien an, so sind die 3,– €/Liter nichts weiter als irreführende Werbung. Natriumchlorit in wässriger Lösung (25 %) ist im Liter für rund 12,– € zu bekommen, Salzsäure (5 %) in Analysequalität für ca. 15,– €. Gibt man noch einen Euro für die Verpackung hinzu, so ergibt sich für MMS im Set als Minimum ein Literpreis von 14,– €, was bereits knapp das Fünffache von dem ist, was Koehof behauptet.
Im Einzelhandel sieht es noch schlechter aus. Die gängigen Preise für ein MMS-Set, bestehend aus 100 ml NaClO2 sowie 100 ml Säure, liegen bei rund 22,– € (110,– €/Liter), eine fertige Ein-Komponenten-Mischung wird gar für rund 19,– €/105 ml (180,– €/Liter) angeboten – gegenüber den Großhandelspreisen für die einzelnen Chemikalien sind das Gewinne von 685 % bzw. 1185 %. Auf den Seminaren und Workshops von Ali Erhan mit Eintrittspreisen von 290,– € gehen nach Recherchen des ARD-Magazins „Kontraste“ MMS-Präparate nach erfolgreichem Einlullen der Teilnehmer offenbar weg wie warme Semmeln – für 60,– € pro Packung. Die Behauptung, hier läge keine Gewinnerzielungsabsicht vor, sondern selbstlose Nächstenliebe und Gemeinnützigkeit zum Wohle der Menschheit, dürfte damit nur schwer aufrecht zu erhalten sein.
Auch der Erfinder selbst gibt sich als alter Goldsucher und Ex-Scientologe nicht gerade bescheiden. Der Eintritt zu speziellen Seminaren mit Jim Humble persönlich, auf denen er seine ausgelutschten Anekdoten zum Besten gibt, schlägt schon mal mit 450,– € zu Buche (z. B. Hannover im April 2014), für zwanzigminütige Einzelgespräche werden gar 100,– € verlangt – kein schlechter Stundenlohn für einen alten Mann mit ein paar wirren Phantasien. Bücher zum Thema MMS sind natürlich auch zahlreich erhältlich, zumeist aus Jim Humbles eigenem Verlag. Dennoch wird er nicht müde zu behaupten, er würde mit MMS kein Geld verdienen, sondern ganz im Gegenteil sich selbst zum Wohle der gesamten Menschheit aufopfern.
Daß die behauptete und gern glorifizierte Selbstlosigkeit nur von 12 bis Mittag andauert, gab ausgerechnet ein Vertreter der MMS-Szene unumwunden zu. Der Allgemeinmediziner Peter Rohsmann, der bis zum 2010 behördlich angeordneten Verbot und der Beschlagnahmung einen regen Onlinehandel mit MMS-Produkten betrieb und auf Veranstaltungen sowie zahlreichen Videos im Web die Werbetrommel rührte, verkündete nach dem Einschreiten der Behörden in einem Schreiben, es falle nun „jedoch ein beträchtilicher[sic!] Anteil meiner Umsätze weg“. Man möchte fast Danke sagen für die seltene Ehrlichkeit.
Mythos: MMS hilft gegen Autismus
Der aktuellste Irrsinn, allerdings auch der mit den bislang dramatischsten Folgen, ist die steile These, MMS könne bei Kindern Autismus lindern oder sogar heilen. Zwei besonders skrupellose Vertreter auf diesem Gebiet sind Andreas Ludwig Kalcker sowie die US-Amerikanerin Kerri Rivera, selbst Mutter zweier Söhne, einer davon autistisch.
Rivera behauptet, in ihrer Klinik in Mexiko tausende Familien behandelt und weltweit bereits über 100 Kinder vollständig von Autismus geheilt zu haben, viele weitere seien auf dem Wege der Genesung. Ihre „Heilmethoden“ sind dabei ebenso drastisch wie wirksam, allerdings nicht im positiven Sinne. So schreckt sie nicht davor zurück, schon Säuglingen MMS-Tropfen zu verabreichen und die Abwehrreaktionen des kleinen Körpers auf das Gift als Erfolg zu verkaufen. Endgültig als Folter ist es aber zu bezeichnen, Kinder mit MMS-Einläufen zu traktieren. Kein Mensch mit auch nur ansatzweise so etwas wie Mitgefühl und Vernunft käme auf die Idee, einem kleinen Kind den Darm mit einem industriellen Bleich- und Desinfektionsmittel auszuspülen!
Kerri Rivera kann beides nicht haben, sonst würde sie Kindern nicht so etwas antun. Ihrer Meinung nach wird Autismus durch Keime, Parasiten, Pilze, Schwermetalle (angeblich z. B. aus Impfungen) und viele andere Dinge verursacht, welche von MMS ganz selbstverständlich neutralisiert werden können. Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Autismus werden dabei komplett ignoriert. Auch die dem Kind zugefügten Schäden werden verharmlost bzw. als beginnende „Heilung“ und somit als Ansporn für weitere Mißhandlungen gesehen. Bei dem nach einem MMS-Einlauf ausgeschiedenen Gewebe handelt es sich allerdings nicht um vermeintliche Würmer als Krankheitsauslöser, wie von den Verfechtern behauptet, sondern um verätzte, abgestoßene Schleimhaut aus dem kindlichen Darm. Nicht einmal die verzweifelten emotionalen Reaktionen ihrer Kinder bringen die Eltern zur Räson, im Gegenteil: Weinerlichkeit und gesteigerte Empfindsamkeit des Kindes werden auf den Kampf des Körpers mit den angeblichen Parasiten geschoben, ein nach andauernder MMS-Tortur gebrochener Wille des Kindes als Heilerfolg.
In einigen Fällen wurden inzwischen Jugendämter eingeschaltet, doch die Behörden in Deutschland sind wie so oft chronisch überlastet, so daß es in vielen Fällen gar nicht erst zu einer Anzeige und Verfolgung der Täter kommt.
Mythos: Wir sind die Opfer einer Verschwörung der Pharma-Mafia
Geradezu lehrbuchmäßig präsentieren sich die MMS-Verfechter im Umgang mit Kritikern – eine Sternstunde der Verschwörungstheorien. Die zahlreichen veröffentlichten Videos und Schriften zeichnen ein recht klares Bild:
Selbstverständlich sind alleine Jim Humble und seine Jünger im Recht.
Selbstverständlich stecken sämtliche Kritiker und Behörden mit der Pharma-Mafia unter einer Decke, um in einer gigantischen PR-Aktion aus reinem Gewinnstreben zugunsten der etablierten Industrien die bahnbrechenden und weltbewegenden Erkenntnisse rund um MMS totzuschweigen und dessen Markterfolg zu schmälern.
Selbstverständlich können die grandiosen Erfolge mit unzähligen, allerdings kaum überprüfbaren Anekdoten, phantastisch anmutenden Zahlen glücklicher und geheilter Menschen sowie jahrelanger persönlicher Erfahrung „bewiesen“ werden.
Selbstverständlich sind alle verblendeten Opfer der „Schulmedizin“ im Irrtum bzw. haben alternativ einfach keine Ahnung.
Selbstverständlich sind insbesondere die akademischen Kritiker von MMS einfach nur dumm bzw. blind für die „Wahrheit“. Viele werden in aggressiver Weise verunglimpft, diffamiert und persönlich angegriffen, dem Roten Kreuz wird ein „Genozid aus Profitgier“ unterstellt.
Selbstverständlich müssen dieselben nutzlosen Informationen in unzähligen Videos und Schriften gebetsmühlenartig wiederholt werden, um deren Wahrheitsgehalt zu unterstreichen und sie möglichst weit zu verbreiten.
Selbstverständlich werden wissenschaftliche Erkenntnisse, welche die eigenen Behauptungen widerlegen könnten, ignoriert bzw. verschwiegen. So wird z. B. die angebliche Wirksamkeit von MMS auch bei Tieren damit begründet, daß es bei diesen schließlich keinen Placebo-Effekt geben könne – eine schon seit Jahren eindeutig widerlegte These.
Eines können sich die MMS-Verfechter immerhin zugute halten: Sie sind mit diesem Verhalten nicht allein. Exakt dieselben Wahnvorstellungen ziehen sich durch ausnahmslos alle Verschwörungstheorien und die meisten alternativen Heilversprechungen. Man könnte ein regelrechtes „Verschwörungs-Bingo“ spielen, da es praktisch stets dieselben Schlagwörter und Verleumdungen sind, welche zur vermeintlichen Untermauerung des eigenen wackligen Standpunktes, besser: Standpünktchens, herangezogen und lautstark verkündet werden.
Weiterführende Links
- „Gefährliche Quacksalber“ – Wie MMS-Anhänger Kinder verätzen (defacto/HR)
- Arzneimittelbehörde warnt vor MMS
- BfArM warnt vor der Anwendung von „Miracle Mineral Supplement“ als Arzneimittel
- We didn’t start the fire – Eine Botschaft an den MMS-Mob
- MMS - die Fakten
- Jim Humble's MMS Fraud
- The lowest of the low: Trying to bleach autism away